Demokratie

Würde

 „Die brauchen doch ein Programm, wenn sie was verändern wollen!“

Das ist einer der aktuell immer wieder gehörten Anwürfe gegen die millionen Demonstrierenden der vergangenen Wochen im gesamten Bundesgebiet. „Welches Programm eint diese Menschen, die da auf die Straße gehen?“ ist eine Frage, die in die gleiche Kerbe schlägt.

Ich gehöre auch zu diesen Menschen. Meine Wahrnehmung: der Konsens ist die Würde des Menschen, die nicht angetastet werden darf, es aber bereits seit Langem ist. Weil der Staat seiner Aufgabe nicht nachkommt, diese in ausreichender Weise zu achten und zu schützen und sie durch Aussagen einzelner Repräsentant:innen auch selbst angreift.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“

Artikel 1 des des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland.

Die Menschen, die ich treffe, haben viele verschiedene Perspektiven, persönliche Hintergründe und Wünsche.

Ich schaue auf die Entwicklungen unter Anderem als Vater, Ehemann, Freund, als Ostdeutscher, Deutscher und Berliner.

Die Verlautbarungen „dieser“ rechtsextremen Partei erinnern mich an verschiedene Episoden meiner Familiengeschichte. An meinen Urgroßvater Kurt, der am Angriffskrieg auf die Sowjetunion teilnahm, nicht wiederkam und Familien in Trauer hinterließ. Nicht nur seine eigene, sondern auch die der Menschen, die er getötet hat. Weil relevant viele Deutsche jemandem hinterherliefen, der Deutschland groß machen wollte und dabei Europa ins Verderben stieß.

Sie erinnern mich an meine Oma, die auf ihre Brüder Jahrzehntelang weitgehend verzichten musste, weil jemand meinte, man müsse Mauern zwischen Menschen bauen.

Sie erinnern mich an die menschlichen Beengungen und das gegenseitige Misstrauen, das die Diktatur der DDR bei sehr vielen verursachte, weil niemand sich sicher sein konnte, dass das gesprochene Wort wirklich im Raum bleibt, weil sich alles der großen Sache unterzuordnen hatte. Auch die eigenen Freundschaften, Ehen, Sehnsüchte und Bedürfnisse, die allzu häufig unter einem Berg von menschlichem Misstrauen, Resignation und häufig auch Zynismus und letztlich einem internalisierten Anpassungsdruck begraben wurden.

Die DDR war kein solidarischer Staat, wie es heute so oft verklärend heißt. Wer im Osten groß geworden ist, weiß, dass diese Gesellschaft eine gewisse Wärme „nach innen“ haben kann, die aber nur für diejenigen gilt, die „zu uns“ gehören und selbst denen wird die Zugehörigkeit abgesprochen, wenn man eine andere Meinung vertritt. Die rechtsextreme Partei, gegen die derzeit demonstriert wird, wurde eines der Gesichter dieses Problems.

Keine andere Partei versteht es besser, diese Frustrationen für sich zu nutzen, indem sie sie immer weiter befeuert und Feindbilder etabliert bzw. verstärkt. Man wird sie in einem Wettbewerb in dieser Disziplin auch nicht überholen können, weil sie immer drei Schritte weiter gehen wird, als alle anderen. Am Ende gewinnt in diesem Rennen ihr Kampf gegen Menschenrechte, Rechtsstaat und Demokratie.

Geschichte wiederholt sich nicht, aber allzu häufig reimt sie sich. Deshalb ist es auch kein Widerspruch, wenn eine braune Partei allzu häufig wie eine Mischung aus einer untergangenen roten und einer früheren braunen Partei klingt. Und das möchte ich insbesondere meinen Kindern ersparen.

Ich möchte, dass sie in einer Gesellschaft und in einem Staat groß werden können, in dem sie ihren Platz finden können, ohne ihre Ansichten und Mitmenschen verraten zu müssen.

In dem sie erfolgreich werden können, wenn sie es wollen, aber in dem sie auch geachtet werden, wenn es ihnen nicht gut geht und sie auf staatliche und gesellschaftliche Fürsorge angewiesen sein sollten. Ich möchte, dass sie in einem Land groß werden können, dem es egal ist, von wo ihre Freunde kommen, oder welche Hautfarbe sie haben.

Ich möchte in einem Land leben, in dem sich der Staat als gewählte Organisation der Gesellschaft nicht aus seiner Verantwortung für die Gesellschaft zurückzieht, das Gemeinwesen kaputtspart und sich (wie in Ostdeutschland) 30 Jahre nach Übernahme der „Jugendarbeit“ durch Kameradschaften und NPD wundert, dass über 30% der Ostdeutschen eine rechtsextreme Partei wählen würden.

Ich möchte, dass meine Kinder in einem Land leben können, in dem von Demonstrierenden, die für die Würde des Menschen demonstrieren, nicht verlangt wird, dass sie eine Einheitsmeinung vertreten, denn genau darum geht es:

Dass all diese Menschen jenseits dieses Grundkonsens unterschiedliche Meinungen vertreten und auch verschiedenste Parteien wählen dürfen. Dafür gehe ich auf die Straße und nach meinem Eindruck auch sehr viele andere.

All das ist gerade in Gefahr.

Meine Erwartung an die demokratischen Parteien ist, dass sie sich nicht auf ein Rennen mit Extremisten einlassen, sondern dass sie eine Politik machen, die die Würde des Menschen in den Mittelpunkt stellt.

Meine Erwartung ist, dass demokratische Parteien keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass sie mit Rechtsextremisten nicht zusammenarbeiten. Extremistische Parteien werden auch dadurch stark, dass ihnen Machtoptionen in den Raum gestellt werden. Extremistische Parteien werden gestärkt, wenn Menschen gegeneinander aufgebracht werden, sei es entlang von Herkunft, Einkommen, gesellschaftlichem Status, sexueller Orientierung oder was auch immer.

Wer in gesellschaftlichem Frieden leben möchte, muss Menschen friedlich zusammenbringen.