Demokratie

Auf dem Fahrrad mit Roger Willemsen

„Die Demokratie hat etwas chimärisches. Wo wäre sie fassbar, wo materialisiert sie sich?“ fragt Roger Willemsen in seinem Buch „Das hohe Haus“ mit Blick auf das Plenum des Deutschen Bundestag. Ja, wo eigentlich? Wo wird sie fassbar und wie? Eine Frage, die ich, der kein Mitglied des Bundestages ist, mir in ähnlicher Form selbst immer wieder stelle. Wo macht sie DEN Unterschied? Und durch und mit wem? Und wie?

Nachdem entschieden wurde, dass die Schule meines Sohnes in ein Ausweichgebäude umzieht, damit das bisherige Gebäude saniert werden kann, wurde von den agierenden Ämtern offenkundig vergessen, dass Grundschülerinnen und Grundschüler nicht nur ein Gebäude, sondern auch einen sicheren Schulweg benötigen, den sie allein bewältigen können und den sie sich nicht mit unzähligen PKWs auf zu engen Kreuzungen teilen müssen.

Anfragen beim Bezirksamt hierzu ergaben Antworten, die noch mehr Fragen aufwarfen und die vor Allem bewiesen, dass man die Perspektive von Kindern noch nichtmal versucht hat, einzunehmen. Letztlich startete der Unterrichtsbetrieb, ohne, dass den Kindern ein sicherer Schulweg ermöglicht wurde. Seitdem wird ein Großteil der Kinder wieder von Eltern zur Schule gebracht, obwohl sie vorher schonmal allein den alten Weg gingen. Ein Rückschritt in deren Eigenständigkeit.

Es ist eine von diesen vielen „Geschichten“, die schon gar keine mediale, gesellschaftliche und politische Aufmerksamkeit mehr bekommen, weil es zu viele von solchen Baustellen gibt. Weil man sich irgendwie damit abgefunden hat. Es ist einer von diesen vielen Fällen, bei denen man als Elternteil merkt, dass die Belange von Kindern kaum politische Relevanz haben, sofern hiervon nicht gleichzeitig die Interessen Dritter berührt sind, wie beim Ausbau des schulischen Ganztags, bei dem man allzu häufig merkt, dass er nur deshalb parteiübergreifend konsensfähig ist, weil die Eltern in Zeiten des Fachkräftemangels als Arbeitskräfte benötigt werden (was die Idee von Ganztagsangeboten für die Kinder aber nicht weniger richtig machen würde).

Wir haben deshalb demonstriert. Mit den Kindern. In Form eines Fahrradkorsos. Geholfen hat es bisher in Sachen Schulwegeplanung nichts, aber wir sind als Eltern etwas zusammengerückt und die Kinder haben gemerkt, dass sie uns auch in dieser Angelegenheit an ihrer Seite haben und dass wir das gemeinsam artikulieren. Auch das ist ein Sinn von Demonstrationen: Menschen zusammenzubringen. Bewegung „von unten“ begründen. Kindern beibringen, dass staatliches Handeln oder Unterlassen kritisiert werden darf. Als wir an dem Tag mit dem Fahrrad unterwegs waren, dachte ich an die Eingangs zitierte Frage von Roger Willemsen. „Hier!“ gab ich mir selbst als Antwort. Mein Sohn spricht heute noch manchmal von diesem Nachmittag und dass da was passiert ist, was er vorher nicht erlebt hat.

Mich macht das glücklich, aber ich bin gespalten. Demokratie ist häufig zäh, nicht selten sogar lähmend. Alle selbst ernannten Alternativen dazu sind bei näherer Betrachtung keine Alternativen, aber es wäre schön, wenn die Demokratie und ihre Behörden sich mitunter etwas beeilen könnten, bevor die Kinder volljährig sind. Und wenn sie sich im ersten Schritt wenigstens bemühen würden, die Perspektiven und Interessen von Kindern wahrzunehmen. Zu erspüren. Und gegebenenfalls auch gegen die Interessen anderer Akteure zu verteidigen und durchzusetzen.

Wie würde Politik aussehen, deren gestaltende Akteurinnen und Akteure sich regelmäßig vorstellen, die Stadt in einem Körper mit einer Größe von 1,20 Metern zu erleben?

Empfehlung: „Das hohe Haus“. Eine szenische Lesung.

Empfehlung : „Das hohe Haus“ als Hörbuch. Gelesen von Roger Willemsen.